30. April 1957

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Der strömende Regen klatschte nun schon seit zwei Stunden gegen die Scheiben des Zuges. Johann hatte sein Gepäck schon am Morgen fertig gemacht, jetzt wartete er noch auf das Mittagessen, das wohl wie gestern pünktlich um zwölf Uhr serviert wurde. Die planmäßige Ankunft in Moskau sollte dann um halb Drei erfolgen. 

Es ist gerade einmal eine Woche her, dachte Johann, als ich aus meinem durchaus friedlichen Studentenleben gerissen wurde; und nun bin ich bald dort, tausend Kilometer von zuhause entfernt in einem Land, das ich nicht kenne und über das mir auch niemand etwas Glaubwürdiges erzählt.
 
Mehrmals hatte Johann versucht, aus seinem Dolmetscher Schachlikow irgendetwas über die ominöse Kontaktperson herauszufinden, die ihn am Bahnhof in Empfang nehmen und in den nächsten vier Monaten seine Ansprechperson werden würde.

Andererseits war Schachlikow von seiner Art her ganz anders, als Johann erwartet hatte: Kein verbissener, böse dreinschauender Kapitalistenhasser, der ihm nur befohlenerweise seine Dienste anbot. Und wenn er es wäre, dann könnte er sich gut verstellen. Im Gegenteil, wohl auch, weil Schachlikow sich das Abteil mit Generalwachtmeister Winter teilte und der immer vertrauter mit Johann sprach, gab es gestern Abend sogar eine besondere Überraschung, als Winter Johann fragte, ob er eventuell eine Runde Karten mitspielen wollte.

Da er mit Oberstleutnant Bruschek seit sie den russischen Zug bestiegen hatten, sowieso kaum mehr Kontakt hatte, sagte Johann gerne zu. Da er aber nicht Kartenspielen konnte, gab es großes Gelächter auf Seiten der beiden anderen. Johann fragte sich, ob dem Oberstleutnant dieser herzliche Umgang mit anderen nicht abging. Die formelle Art, die er trotz aller Leutseligkeit schon in Österreich an den Tag gelegt hatte, versteinerte seine Umgangsformen, seit sie die Grenze passiert hatten. 

Johann war aber durch ihn selbst darauf vorbereitet worden: zuerst musste einmal grundsätzlich beurteilt werden, wer für wen arbeite, dann erst würde es wieder offenere Gespräche geben können. Mit Winter und Schachlikow hingegen, die ohne eingebildete oder wahre schwere Lasten auf den Schultern sehr gelassen wirkten und die Fahrt im luxuriösen Breitspurzugwaggon, der nur ihnen alleine gehörte, zu genießen schienen, war der gestrige Abend sehr lustig verlaufen. 

Johann war beim Wasser geblieben; und als er heute Morgen Generalwachtmeister Winter eher spät und mit einer Mischung aus Erschöpfung, Euphorie und leichtem Schwindel am Gang traf, wusste er, dass auch für ihn Wasser besser als Wodka gewesen wäre. Schachlikow hingegen wirkte nicht anders als sonst, herzlich und unbeschwert.

Als der Serveur den kleinen Wagen mit dem Mittagessen brachte und den Tisch in Johanns Wohnzimmer deckte, war er schon an dieses seltsame Ritual gewöhnt. Wahrscheinlich würde Generalwachtmeister Winter bei so einem üppigen Menü heute eher fasten: Neben einer Schale Borschtsch gab es eine zweite Suppe, die als Solyanka angekündigt war und aus verschiedenen Fleischsorten, Sauerkraut, Gewürzgurken, Oliven und Zitronengekocht war. Als Drittes gab es Blini mit Kaviar und Zwiebelsauerrahm, bevor als Fischgang ein zart gebackener Hecht, serviert mit einer Dill-Sauerrahmsauce und begleitet von Salzkartoffeln gereicht wurde. Zwar hätte Johann schon nach der Solyanka genug gehabt, Kaviar war gar nicht so seine Geschmacksrichtung, aber er wollte nicht unhöflich sein und nahm danach in vorgesehener Reihenfolge auch noch das Boeuf Stroganoff als Hauptgericht. Das Dessert war eine Zapekanka, ein russischer Topfenkuchen. Johann überlegte während des Essens hin und her, was wohl der beste Einstieg für das Gespräch wäre. Eine unverfängliche Begrüßung, die auf keinen Fall das so vertraute „Grüß Gott“ sein sollte, auch wenn er immer noch mit der Komponente der Übersetzung rechnen musste. Danach irgendetwas über die fortschrittliche Einrichtung des Zuges und die komfortable Reise. In der Tat war die Ausstattung des sowjetischen Zuges dem Design nach wesentlich moderner und auffälliger in der Buntheit als die sehr traditionell gehaltenen österreichischen Wagen. Und weder elektrische und sanitäre Ausstattung noch die Qualität der Speisen standen den heimischen Angeboten nach. 

Das Essen allein im abgetrennten Waggon vermittelte zwar ein wenig den Eindruck der Gefangenschaft, aber das wollte Johann nicht dem Zugpersonal vorwerfen, dass sehr bemüht nach ihm sah. Auch wenn aufgrund der Sprachbarriere ein dankbares Nicken alles war, was er erwidern konnte. 

Überrascht reagierte Johann, als es an seiner Abteiltür klopfte. Wahrscheinlich würde es Schachlikow oder Winter sein. Auf Johanns Bitte, einzutreten, trat allerdings Doktor Bodin in das Abteil. Johann stand auf und grüßte den Gast, bot ihm einen Sitz an und setzte sich ebenfalls wieder. Der hagere, stets freundlich lächelnde Arzt begann das Gespräch: 

„Ich hoffe, Herr Doktor, dass die Zugfahrt für Sie nicht zu beschwerlich war. Ich werde Ihnen auch nach Ihrer Ankunft in Moskau in allen medizinischen Fragen zur Seite stehen und Sie behandeln, wenn das nötig sein sollte. Genosse Schachlikow wird mich im Ernstfall sofort kontaktieren. Seien sie versichert, dass das sowjetische Gesundheitssystem zu den besten der Welt gehört.“

Johann dankte: „Ich habe Ihre Betreuung seit unserem ersten Treffen in Prag immer sehr zuvorkommend erfahren. Und wenn ich so weiter essen, werde ich sicher ein Medikament gegen Übergewicht brauchen. Vielleicht ergibt sich ja in Moskau auch Zeit für das eine oder andere Gespräch, denn es wird dort nicht viele geben, mit denen ich ohne Dolmetscher sprechen kann.“

Bodin nickte: „Ja, das ist sehr wahrscheinlich. Ich gebe zu, ich bin auf das Ergebnis Ihrer Forschungen sehr gespannt. Ich selbst beschäftige mich nur amateurhaft mit Krankenhausarchitekturgeschichte, aber es wird sicher die Gelegenheit geben, Ihre Ergebnisse einmal zu diskutieren.“

Johann hoffte, dass das kein Versuch war, ihn aufs Glatteis zu führen. Er hatte dem Arzt bisher voll vertraut, weil er an etwas wie akademische Solidarität glaubte, aber Oberstleutnant Bruschek hatte ihn vor jeder Form der Verbrüderung gewarnt.

„Ja“, erwiderte er daher kurz, „es wird sicher interessant werden, darüber zu sprechen, auch wenn Krankenhausarchitektur gar nicht zu meinem Spezialgebiet zählt. Da werde ich vielmehr von Ihnen lernen.“

Bodin stand auf, schüttelte Johanns Hand mit den Worten: „Dann freue ich mich auf ein Wiedersehen in Moskau!“ und verließ das Abteil.

Johann dachte über den Besuch nach: Natürlich könnte er in Moskau nicht einfach zu jedem beliebigen Arzt gehen, schon aufgrund der Sprachbarriere, aber das ein Arzt eigens für ihn abgestellt war, erhöhte etwas das Gefühl der Beklommenheit.

Kurz vor dem Bahnhof blieb der Zug stehen, der Waggon wurde abgekoppelt und von einer eigenen Lokomotive auf einen separaten Bahnsteig gezogen, von dem aus man nicht auf die anderen Bahnsteige sehen konnte. Am Bahnsteig, der völlig überdacht war, warteten einige Uniformierte, die Johann der Armee zuordnete, weil sie eine Uniform in der Art Oberst Grabows trugen. Etwas weiter hinten stand eine Gruppe von Zivilisten, vier Männer und zwei Frauen, alle mit Regenmänteln bekleidet. Eine der Frauen trug ein Kopftuch, die andere einen zusammengeklappten Regenschirm. 

Einer dieser Herren wird in den nächsten Monaten mein wichtigster Gesprächspartner sein. Wer es wohl ist? Johann betrachtete die vier sorgfältig. Verriet ihre Miene etwas über die bevorstehende Begegnung? In wenigen Minuten würde sich alles weisen.

Es klopfte an der Türe und Schachlikow öffnete sie sogleich, sodass Johann kurz zusammenzuckte. „Entschuldigen Sie das Eindringen, aber ich wollte Sie nur daran erinnern, wie die Begrüßung jetzt verläuft. Zuerst werden Oberst Grabow und die beiden österreichischen Soldaten aussteigen und militärisch begrüßt werden. Einer der Herren in Zivil, die sie dort hinten sehen, wird ebenfalls Oberstleutnant Bruschek persönlich begrüßen. Es ist Botschafter Yenal, der osmanische Botschafter in der Sowjetunion. Die beiden sind seit langer Zeit gut befreundet, und es ist kein Geheimnis, dass die Fürsprache des Botschafters nicht wenig zur Auswahl Oberstleutnant Bruscheks für diese Funktion beigetragen hat. Wenn alle Soldaten und der Botschafter den Bahnsteig verlassen haben, werden wir aussteigen und durch Doktor Piatnizkaja begrüßt werden.“

Piatnizkaja? Johann dachte nach. Deutete ein „a“ in den slawischen Sprachen nicht die Weiblichkeit des Namensträgers an. Unvermittelt wandte er sich an Schachlikow: „Ist Doktor Piatnizkaja eine Frau?“ und ohne die Antwort abzuwarten, setzte er nach: „Meine Kontaktperson vor Ort soll eine Frau sein?“

Schachlikow nickte: „Wussten sie das nicht? Doktor Aleksandra Ossipowna Piatnizkaja vom Interministeriellen Komitee für wissenschaftliche Zusammenarbeit ist ihre Kontaktperson. Sie ist Architektin und daher besonders geeignet, all Ihre wissenschaftlichen Fragen zu beantworten.“

Johann überlegte hitzig, während draußen das militärische Protokoll ablief. Die zivil gekleideten Männer und die Frau mit dem Kopftuch näherten sich langsam. Als der militärische Teil abgeschlossen war, trat ein südländischer Mann, der Johann vorher nicht besonders aufgefallen war, vor und ging nach einem Kopfnicken Richtung Oberst Gabrow direkt auf Oberstleutnant Bruschek zu und umarmte ihn. 

Generalwachtmeister Winter, den Johann erst jetzt aus dem Schatten des Zuges vortreten sah, reichte seinem Vorgesetzten ein Geschenkpaket und einen Blumenstrauß. 

Bruschek übergab das Paket an den Mann, der wohl der osmanische Botschafter sein musste, und die Blumen an die Frau mit dem Kopftuch, die ihm zwar nicht die Hand gab, aber freundlich nickte. 

Schachlikow grinste: „Ich bewundere diese Türken immer wieder. Sie können es einfach nicht lassen, an ihren überkommenen Brauchtümern festzuhalten. Die Frau des Botschafters schafft es immer wieder, einen guten Grund für das Tragen eines Kopftuches zu finden, sei es der Regen, sei es Wind oder Sonne. Nun gut, als Diplomatengattin würde ihr auch sonst nichts passieren, aber damit erleichtert sie es uns, diese völlig überflüssige Tradition zu ertragen. Menschen, die durch ihre Kleidung ihren Aberglauben auch noch nach außen demonstrieren, sind heillos rückständig.“

Anstatt eine zustimmende Äußerung, auf die er offensichtlich wartete, von Johann zu bekommen, überkam es ihn plötzlich, dass ja auch Johann zwar statt eines Talars nur einen schwarzen Anzug trug, auf das seltsame Hemd mit dem weißen Stehkragen aber nicht verzichten wollte. „Äh, das habe ich natürlich nicht so gemeint; das gilt nur für das Kopftuch und ähnliche Kleidungsstücke.“ 

Johann lächelte: „Ich hatte mich auf wesentlich beleidigendere Aussagen eingestellt, und bin seit unserer Begegnung in Prag froh, dass ich so glimpflich davongekommen bin. Man kann durchaus verschiedener Meinung über die Bedeutung von Kleidung sein, aber in einem Staat, wo jeder dritte eine Uniform trägt, kann man diese Frage genauso stellen: Hier wird eine religiöse, dort eine politische Gesinnung zur Schau gestellt. Doch die Dame dort hinten mit dem Schirm, ist das Doktorin Piatnizkaja?“

Schachlikow nickte: „Ja, sie wird zum Waggoneingang kommen, sobald die andere Gruppe den Bahnsteig verlassen hat.“

Johann blickte suchend in seinem Abteil umher, in dem nur sein schwarzer Koffer und die kleine Aktentasche auf der Gepäckablage standen. Er runzelte die Stirn: „Wenn ich gewusst hätte, dass meine Kontaktperson eine Frau ist, hätte ich natürlich ebenfalls Blumen besorgt.“

Schachlikow winkte ab: „Das wäre kein guter Einstieg gewesen. Die Genossin ist dafür bekannt, keinerlei Privilegien aufgrund ihres Geschlechts zu akzeptieren. Wenn ich mir erlauben darf, das zu sagen.“

Johann schmunzelte innerlich, weil er von Winter nie so direkt über Oberstleutnant Bruscheks Wünsche oder Abneigungen informiert worden wäre. War das ‚klassenloser‘ Umgang? Konnte man hier, in einem Land, das seinen Informationen nach so gefährlich war, freier über seine Vorgesetzten sprechen als zuhause? Weil hier alle trotz verschiedener Funktion auf einer grundsätzlicheren Ebene gleich waren? Oder lag es einfach an der natürlichen Art des Dolmetschers, dass er seine Meinung relativ direkt sagte?

Johanns Gedanken wurden durch ein Räuspern Schachlikows unterbrochen: Die Gruppe der Militärs und Zivilisten hatte den Bahnsteig verlassen. Die Dame mit dem Regenschirm kam nun auf den Zug zu. Ihr Schritt war elegant, aber bestimmt. 

Johann zog ebenfalls seinen Regenmantel über, achtete darauf, dass der leichte Schal seinen Priesterkragen verdeckte und nickte Schachlikow zu. Dann ging er hinter dem Dolmetscher aus dem Abteil, nicht ohne seinen Koffer und seine Tasche zu nehmen.

„Herr Doktor Erath, ich heiße Sie im Namen des Interministeriellen Komitees für wissenschaftliche Zusammenarbeit in der Sowjetunion willkommen. Ich hoffe, Ihr Aufenthalt in Moskau wird zu den gewünschten wissenschaftlichen Ergebnissen führen.“

Mit diesen Worten streckte ihm die Frau, deren schwarze Haare zu einem strengen Knoten zusammengebunden waren, ihre Hand entgegen.

Mit leichtem Zögern ergriff er sie und antwortete, mit einem Seitenblick auf Schachlikow, der sofort übersetzte: „Frau Doktor Piatnizkaja, es ist mir eine besondere Ehre, von Ihnen persönlich begrüßt worden zu sein. Die Reise in dem komfortablen und sehr futuristisch eingerichteten Zug durch Ihr wunderschönes Land war eine beeindruckende Vorbereitung auf meine Studien hier.“

Johann hatte nicht vergessen, dass er davor gewarnt worden war, mit einem Spion zusammen arbeiten zu müssen. Er versuchte deshalb eine so viel- wie nichtssagende Begrüßung zu wählen. Es wird doch nicht die Absicht der Kommunisten sein, mich durch diese Frau verführen zu lassen, schoss es ihm durch den Kopf. Obwohl sie sehr attraktiv war, würde er sie nur als Wissenschaftlerin und Kontaktperson sehen. Hoffentlich war sie überhaupt eine Wissenschaftlerin. Ganz in Gedanken verloren, hielt er immer noch Aleksandras Hand fest. Diese schien darüber etwas verwirrt zu sein und versuchte, nach einem instinktiven Griff zum Glattstreifen des knielangen Rocks, bei dem sie natürlich nur ihren Regenmantel berührte, die Situation mit einem Scherz zu entspannen:

„Ich bin von ihrer Handschlagqualität inzwischen überzeugt.“

Sofort nachdem Schachlikow, mit einem Blick auf die immer noch verbundenen Hände, übersetzt hatte, ließ Johann die Hand Aleksandras los. 

„Ich werde Sie jetzt in das Hotel Moskwa begleiten, wo Sie untergebracht sein werden. Genosse Schachlikow wird neben Ihnen wohnen und Ihnen jederzeit als Dolmetscher zur Verfügung stehen. Doktor Bodin, unseren Arzt, haben Sie ja bereits kennengelernt. Er wird während der ganzen Dauer des Aufenthalts zur Verfügung stehen, wenn Sie sich unwohl fühlen. Ich möchte Sie gleich jetzt darum bitten, dass Sie das Zimmer nicht verlassen, ohne Genossen Schachlikow zuvor davon zu informieren. Diese Maßnahme dient nur zu Ihrem Schutz, weil Sie sonst aufgrund eines sprachlichen Missverständnisses möglicherweise Unannehmlichkeiten erleben könnten.“

Und spätestens an der Rezeption von meinen Männern sowieso aufgehalten würden, dachte Aleksandra weiter.

„Morgen wird Ihnen um sieben Uhr dreißig das Frühstück im Zimmer serviert werden; Genosse Schachlikow wird heute Abend noch die Menüauswahl mit Ihnen vornehmen. Da morgen der Tag der Arbeit ist, wird in der ganzen Stadt gefeiert. Ich werde zum Mittagessen um zwölf Uhr zu Ihnen kommen. Wenn Sie möchten, können wir am Nachmittag eine Schiffsrundfahrt machen, bei der ich Ihnen ein bisschen über Moskau und seine Geschichte erzählen kann. Mit der Arbeit an Ihrem Projekt werden wir dann übermorgen beginnen.“

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