Montag, 12. Juli 1790

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Glandera

Der Vormittag verstrich, ohne dass Glandera aus der Mine herausgerufen wurde. Sie hämmerte stur auf den Quarz und warf das Material in die Lore. Um die Quarzader zu verfolgen, schloss sie die Lider und tastete mit ihren Fingerspitzen die Felswand entlang. Das Kribbeln auf ihrer Haut wurde schwächer, je tiefer sie in die Felsspalte trat. Völlig in ihre Arbeit vertieft, bemerkte sie Zulkis erst, als sie sein beißender Gestank übermannte.

„Glandera, du gehorchst mir nicht“, klagte er mit einem überheblichen Unterton.

Mit der Hand vor der Nase drehte sie den Kopf von ihm weg. „Ich verrichte meine Arbeit, wie Sie es wünschen.“

„Das ist nicht genug.“

Er trat näher und sie bemerkte, dass sie in einer Sackgasse steckte. Ihre einzige Möglichkeit war, sich an ihm vorbeizuzwängen. Mit ausgestreckten Armen hielt sie ihn auf Abstand, doch gegen seine Körpermasse hatte Glandera keine Chance. Unvermeidlich drückte er sie mit seinem schwammigen Körper an die Felswand. Mit der rechten Hand griff er in seine Hose.

„Lassen Sie mich in Ruhe!“ An ihrem Bauch bewegte sich seine Faust. Der saure Geruch nach Schweiß ließ sie würgen.

„Gleich“, hechelte er, „… nur noch einen Moment.“

Dank ihres schmalen Körpers schaffte es Glandera, sich tiefer in die Spalte zu quetschen. Sie kniff ihre Augen fest zusammen und hoffte, dass er schnell fertig wäre. Erinnerungen an ihre Kameradinnen flammten auf und sie ballte die Hände zu Fäusten. Die Situation kam ihr immer auswegloser vor. Entmutigt lehnte sie den Kopf an die kühle Felswand. Ihre Stirn traf die Quarzader. Wie ein Schwamm wurden ihre Sinne vom Berg eingesaugt und die Umgebung verblasste.

Ferron

Wenige Kilometer entfernt nahm Erzmagus Ferron das Dröhnen der Erde vor allen anderen Magiern wahr. Seine Iriden wurden sogleich grau. In seiner magischen Wahrnehmung hatte er ein genaues topografisches Bild von Chattenberg vor Augen und über die Wellen war es für ihn ein Leichtes, das Epizentrum des Bebens zu finden. Mitten im Gespräch sprang er auf. „Ein Notfall!“ Sein Stuhl fiel polternd zu Boden und seine Hand formte eine liegende Acht, mit der er das Portal öffnete. Dann war er verschwunden.

Überrascht blickten seine Kollegen auf ihre Gläser, die sich leise vibrierend über den Tisch bewegten, während die Flüssigkeit darin Kreise bildete.

Ferron

Der Magister kam auf dem Platz vor der Mine an und riss sich die Handschuhe von den Fingern. Laut schreiend rannten die Minenarbeiter aus dem Stollen. Ferron runzelte die Stirn. Sein Blick wanderte suchend über den Platz. Vorarbeiter Zulkis flüchtete ebenfalls, anstatt die Evakuierung zu koordinieren.

„Glandera!“ Fluchend stürmte der Erzmagus in die Mine und drängte sich an den Fliehenden vorbei. Eine Stimme meldete sich in seinem Kopf.

„Magister Ferron, hier ist Jakob, in Chattenberg bebt die Erde.“

„Ich bin bereits vor Ort, kann jedoch diesmal nicht die Einsatzleitung übernehmen. Bitte teilt mir mit, wer heute koordinieren wird.“ Im Vorbeirennen drückten sich die Arbeiter an seinem breiten Körper vorbei. Seine Fingerspitzen streiften den Felsen und er entdeckte sogleich Glanderas genaue Position. Magisch schob er mit einer Handbewegung das umherliegende Werkzeug aus Metall an die Wand, damit niemand stolperte. Das Beben nahm zu.

Ferron fand sie tief in die Spalte gepresst. Risse breiteten sich sternförmig um sie herum aus. Lose Brocken fielen hinunter und prallten an seinem magischen Schild ab. Ferron fluchte und lenkte einen Stein ab, sodass er nicht ihren Kopf traf. Blitze zuckten zwischen ihnen hin und her, doch er ignorierte die Energie.

„Glandera?“, schrie er sie an und rüttelte an ihrer Schulter. Sie reagierte nicht. Ihr Zustand war kritisch, denn sie war magisch mit dem Felsen verbunden. Er durfte sie nicht aus der Position reißen, da ihr Geist dann Schaden nehmen würde. Kurzentschlossen atmete er aus, senkte seine Lider und drang ungehindert in ihre Gedanken ein.

Glandera

Vollkommene Dunkelheit umgab Glandera. Sie irrte umher, unwissend, wo sie war, und suchte verzweifelt einen Weg hinaus. Eine Gefahr hatte sie hierhergebracht, doch sie erinnerte sich nicht mehr, wovor sie geflohen war. Panik stieg in ihr auf und sie rüttelte mit wachsender Verbissenheit am Felsen, damit sich ihr ein Weg öffnete.

Da! Eine Berührung. Vorsichtig strichen Fingerrücken ihren Arm hinunter. Ihre Hand wurde umfasst. Sie wusste, dass es sich um die Präsenz von Ferron handelte. Wie war das möglich? Dankbar, jemanden in dieser Dunkelheit gefunden zu haben, folgte sie ihm in die Richtung, in die er sie zog. Allmählich wurde es heller, bis ihr Bewusstsein endlich ans Licht gelangte. 

Ferron

Ein letztes Mal zuckten Blitze auf, bevor Ferron ihren kraftlosen Körper aus der Felsspalte zog. Das Beben verstummte. Schützend beugte er sich über sie, wobei seine Hand eine kreisende Bewegung formte. Sie hing schlaff in seinen Armen, doch für ihn war sie leicht, wie eine Feder, als er durch das Portal trat.

Inmitten eines kreisrunden Monuments entstieg er auf einen menschenleeren Platz. Erleichtert sah er zur blauviolett schimmernden Kuppel hinauf und atmete tief durch. Vollkommene Stille umgab ihn. Er wandte sich um und trug Glandera in den Schatten.

Die Stimme von Jakob erklang erneut in seinem Geist. „Magister Ferron? Magister Sverker wird die Leitung übernehmen.“

„Vielen Dank.“ Der Erdmagier dankte auch Allah für diese Fügung.

Abseits der brennenden Sonne ließ er sich auf die Knie sinken und betrachtete die schlafende Frau in seinen Armen. Ihre Nähe knisterte fast unmerklich. Hätte sie sich vollkommen verausgabt, wäre sie gestorben.

„Geht es dir gut?“

„Mmh“, brummte sie im Schlaf und bewegte sich nicht.

 

Sanft ließ Ferron sie auf den sandigen Boden gleiten. Dann zog er seine Robe aus, faltete sie mehrfach zusammen und legte sie der schlafenden Frau behutsam unter den Kopf. Das Kopftuch rutschte von ihrem Haar und blieb seitlich liegen. Er beobachtete, wie sich ihre Brust regelmäßig hob, und entspannte sich. Widerstrebend, da sie eine Magierin wie er war, drang er in ihre Gedanken ein, um die Ursache ihres Ausbruchs festzustellen. Es war eine Dauerschleife, in der sich der Vorarbeiter näherte und sie in Panik geriet.

Er ballte er seine Hände zu Fäusten. So erfuhr er nichts. Nur unter Mühe entzog er sich ihrer Nähe und stand auf. Kopfschüttelnd ermahnte er sich zur Vernunft, denn er vernachlässigte seine Pflichten.

Der Erdmagier baute eine telepathische Verbindung zu den Wassermagiern auf: „Hier ist Ferron, ich benötige einen freien Heiler.“

Eine sanfte weibliche Stimme meldete sich. „Grüße, Magister Ferron, hier ist Nereida. Wie kann ich Euch helfen?“

„Darf ich Euch bitten, eine junge Frau zu untersuchen? Glandera ist ihr Name. Ich muss wissen, ob es ihr gut geht.“

„Sehr gern. Bringt sie zu uns, ich werde sie mir sogleich ansehen.“

Ferron schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Sie ist eine Incantatrix und der Grund, dass gerade ganz Chattenberg gebebt hat. Deshalb habe ich sie in die Arena der Elemente gebracht.“

„Eine …“, die Magistra verstummte für einige Sekunden. „Wir sind schnellstmöglich bei Euch.“

Nereida stieg mit ihrer Akolythin Melody durch das Portal. Die Robe der Erzmagierin fiel leicht über ihre Kurven, was ihr eine zärtliche, mütterliche Ausstrahlung verlieh.

Sie neigten den Kopf zum Gruß und knieten sich direkt neben die schlafende Frau. Behutsam legte Nereida ihre Hand auf die von Glandera, dann wechselte die Farbe ihrer Iriden. Fassungslos schüttelte sie den Kopf, während sie die Botenstoffe im Blut analysierte. „Diese Frau ist ängstlich, verwirrt und voller Sorgen. In diesem Zustand reicht bereits ein Tropfen, um das Fass zum Überlaufen zu bringen.“ Der Blickkontakt genügte und ihre Studentin untersuchte sie ebenfalls.

Mit den Fingern fuhr sich Ferron durch sein kurzes Haar. „Ich habe es befürchtet.“

Nereida hockte sich im Schneidersitz auf den Boden und legte die Hände in den Schoß. „Woher kennt Ihr sie?“

„Glandera arbeitet in meiner Mine und ist mir durch ihre Energien aufgefallen.“

„Ihr habt wirklich eine Incantatrix mit Erdkräften gefunden?“, hakte die Erzmagierin nach und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Das ist eine wilde Magierin?“, entfuhr es Melody und riss die Augen weit auf.

Nereida nickte ruhig und hielt den Zeigefinger vor die Lippen. „Das sind wundervolle Neuigkeiten, Magister Ferron, aber in diesem Zustand ist sie eine Gefahr für uns alle.“

„Das ist korrekt“, stimmte er zu. „Könnt ihr Glanderas Gemüt ausgleichen?“

„Sicherlich, doch die Wirkung ist nur vorübergehend, solange die Ursache nicht behoben wird.“ Sie nickte ihrer Akolythin zu und Melodys Augenfarbe wechselte von Blau zu Grün, als sie anfing, Magie zu wirken.

„Ich werde mich ihrer annehmen, doch ich muss behutsam vorgehen. Sie fürchtet sich vor unsersgleichen.“

Die Augenbrauen von Nereida schnellten in die Höhe. „Dann weiß sie nicht einmal, dass sie selbst eine Maga ist?“ Mitfühlend blickte sie auf Glandera. „Ihr habt einen langen Weg vor Euch. Zuallererst muss sie begreifen, welche Kräfte in ihr schlummern.“

Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Daran arbeite ich bereits. Dieses Ereignis war nicht vorhersehbar.“

„Euch trifft keine Schuld, doch in diesem fragilen Gemütszustand benötigt Glandera die ununterbrochene Aufsicht eines Erdmagiers. Wollt ihr noch mehr Verantwortung übernehmen? Auf Eure Reisen könnt Ihr sie nicht mitnehmen.“

„Als Mitglied der Magierakademie würde sie unterstützt werden“, murmelte Ferron nachdenklich und wandte sein Gesicht in die Richtung, in der Chattenberg lag. Sein Kiefer spannte sich an. Da das Monument magisch von der Außenwelt abgeschirmt war, konnte Glandera hier nichts zerstören. Doch für ihn war es ebenso unmöglich, die Umgebung zu analysieren.

Melody ließ die Hand los und nickte ihrer Meisterin zu. Die Erzmagierin überprüfte die Arbeit ihrer Akolythin und lächelte zufrieden.

„Magistra, ich muss dringend den Zustand der Stadt überprüfen. Würdet Ihr einen Augenblick bei Glandera bleiben? Ich werde nicht viel Zeit benötigen.“

„Arbeitet in Ruhe, Magister Ferron. Auch Ihr müsst auf den Ausgleich Eurer Kräfte achtgeben. Glandera ist erschöpft und lädt ihre Energie auf. Wir lassen sie schlafen, bis Ihr zurück seid. Sie wird unsere Anwesenheit nicht bemerken.“

Dankbar nickte Ferron. Dann öffnete er ein Portal und schritt hindurch.

Der Erzmagus legte seine blanke Hand auf den Rand des Brunnens auf dem Marktplatz. Augenblicklich verband er sich mit der Erde. Gegenstände aus magnetischem Metall leuchteten hell in seiner Wahrnehmung und er dehnte seine Sinne über ganz Chattenberg aus. Zuallererst schaute er nach Glanderas Familie. Er verharrte und folgte auf magische Weise den Bewegungen im Haus. Erst, als er alle drei Bewohner wahrgenommen hatte, ließ seine Anspannung nach. Sie waren wohlauf. Dann kontrollierte er das Gebäude. Er hatte eine genaue Erinnerung daran und konnte dies mit dem aktuellen Zustand vergleichen. Zum Glück gab es nur vereinzelt Risse.

Der Erdmagier konzentrierte sich auf den Einsatzleiter. „Sverker, hier ist Ferron. Wie ist die Lage?“

„Ferron! Bei allen Göttern, gut, dass du dich meldest. Es gibt nur wenige Verletzte mit kleineren Schnittwunden. Vereinzelt sind Feuer ausgebrochen, die wir gelöscht haben. Die Wassermagier berichten von beschädigten Leitungen. Wie sieht es bei deinem Element aus?“

Ferron zog die Augenbrauen zusammen. „Risse in Decken und Wänden, die verschobene Wasserleitung werde ich richten. Gibt es Schäden in der Akademie?“

„Einige Fenster sind zersplittert und Gegenstände heruntergefallen. Dieses Ereignis erinnert mich an das vom letzten Herbst.“

Da Ferron damals nicht anwesend war, teilte der Feuermagier seine Erinnerung, in der die Erde vibrierte und Menschen aus den Häusern rannten. Der Erdmagier erfasste sofort, dass beide Erdbeben keinen natürlichen Ursprung hatten. Sverkers Stimme riss ihn aus den Gedanken.

„Konntest du diesmal die Ursache für das Beben herausfinden?“

„Ja“, Ferron atmete tief durch, „eine junge Incantatrix hatte ihre Kräfte nicht unter Kontrolle.“

„Das war ein Erdbeben. Dazu müsste sie Erdmagie beherrschen.“

„Das ist korrekt.“

„Du … du meinst …“, stotterte Sverker.

Die Mundwinkel von Ferron zogen sich hoch und seine Augen leuchteten. „Ja. Ich beobachte sie schon einige Tage, Sverker. Sie ist unglaublich. Diese intuitive Gabe, von der sie nichts ahnt. Ich habe kaum jemandem davon erzählt, da sie die Aufmerksamkeit überfordern würde.“

„Ich werde morgen vor dem Kollegium die Ursache erläutern müssen.“

„Überlasse das mir.“

„Du kannst sie nicht lange geheim halten, gerade weil wir schon so lange nach weiteren Erdmagiern suchen.“

Niemand wusste das schmerzlicher als Ferron und so überging er diese Bemerkung. Da die Analyse der Stadt abgeschlossen war, nahm er seine Hand vom Brunnen. Mit einer kurzen Handbewegung erschuf er ein blauviolettes Portal. „Die Akademie und die Häuser können bedenkenlos betreten werden. Die Goldmine ist einsturzgefährdet und bleibt geschlossen. Ich melde mich wieder bei dir.“

„Vielen Dank, mein Freund. Bis bald.“

Bis auf die zuverlässigen Wachen der Magierakademie entdeckte Ferron niemanden auf dem Platz vor der Mine. Nicht einmal der Vorarbeiter war zurückgekehrt, um seine Pflicht zu erfüllen. Mit zusammengezogenen Augenbrauen legte er seine Hand auf die Felswand. Seine braunen Iriden wurden grau, als er magisch in den Felsen eintauchte.

Wie befürchtet hatte das Erdbeben tiefe Risse im Basalt verursacht. Nur das Schließen der Spalten würde einen baldigen Einsturz der Mine verhindern. Er zog seine Magie aus dem Felsen und sah zur Sonne. Instinktiv griff er in seine Brusttasche, um die Taschenuhr zu holen, doch sie war leer.

„Lasst niemanden die Mine betreten, bis ihr neue Anweisungen von mir erhaltet“, instruierte er die Wachen.

„Ja, Magister Ordinarius“, antworteten sie einstimmig.

Sein Blick schweifte über den staubigen Platz und die vollen Loren. Plötzlich schmunzelte er und gab den Küchenhelfern der Akademie telepathisch eine Anweisung. Dann öffnete er ein Portal und kehrte zu Glandera zurück.

Eine Viertelstunde später verabschiedeten sich die Wassermagierinnen. Nereida hatte ihm versichert, dass die Incantatrix bald erwachen würde, und so er ließ sich neben ihr im Sand nieder. Einige Minuten betrachtete er die dunklen Haare, die ihr Gesicht umspielten, bis er es nicht mehr aushielt, und ihr eine Locke von der Stirn strich. Als die Energie zwischen ihnen mit feinen Funken knisterte, zogen sich seine Mundwinkel nach oben. Einem Impuls folgend, leuchtete seine Hand blauviolett auf und er entfernte berührungslos den Staub von ihrer Haut. Ihre vollen, roten Lippen öffneten sich, als sie im Schlaf lächelte. Ein Blitz durchzuckte seinen Körper – sie war bildschön. Ohne sie zu berühren, strich seine Hand über ihren Arm, wobei kleine Funken wohlig zwischen ihnen knisterten. Er genoss das Gefühl und seufzte tief.

Glandera regte sich und Ferron zog seine Hand zurück. Sie streckte sich ausgiebig und gähnte, bevor sie blinzelnd die Lider öffnete. Ihr Lächeln wurde breiter, als sie in seine kastanienbraunen Iriden sah. Dann fror es ein und eine Falte erschien zwischen den Brauen, bevor sie sich ruckartig aufrichtete.

„Geht es dir besser?“ Ferron bemerkte, wie die leichten Vibrationen ihres Herzschlags immer schneller wurden.

„Hochgelehrter Magister? Was? Wo?“ Irritiert schaute sie sich um. Ihr Magen knurrte laut. Peinlich berührt legte sie die Hand darauf.

„Es gab ein Erdbeben in Chattenberg und die Mine wurde geräumt“, erklärte er ihr mit sanfter Stimme.

„Ein Erdbeben?“ Ihre Augen weiteten sich. „Ich muss nach Hause, meine Familie …“

Ferron reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. „Es geht ihnen gut. Ich versichere dir, dass ich mich davon überzeugt habe.“

„Ihr wart dort?“, fragte sie ungläubig und runzelte die Stirn. Funken blitzten auf, als sie seine Hand nehmen wollte, und sie zog sie zurück.

„Ja, ich war in der Stadt, um deren Zustand zu kontrollieren“, erklärte er und rieb frustriert über seine Haut.

Langsam betrachtete sie den kreisrunden Platz. Wie Kuchenstücke war er in Viertel unterteilt. Einen Moment verweilte ihr Blick an dem Wasserfall mit Teich, bevor sie auf den tanzenden Luftwirbel starrte. Skeptisch begutachtete sie das Feuer, das nicht aufhörte zu brennen. Dann sah sie an sich hinunter zu den Steinen zwischen Sand und Erde. Völlig unwirklich stand neben ihnen ein steinerner Tisch mit zwei Blöcken als Sitzgelegenheit. Sie blinzelte, als sie das Essen sah und ihr Blick schnellte zum Erzmagier. „Wo sind wir?“

„In der Arena der Elemente auf dem Anwesen der Akademie.“

Sie wich zurück. „Wie bin ich hierhergekommen?“

Er nahm die Hände hinter seinem Rücken zusammen und senkte sein Haupt. „Du warst bewusstlos. Ich habe dich hierher gebracht, da es der sicherste Ort für dich ist.“

„Für mich? Wo sind dann die anderen Minenarbeiter? Und warum ist kein Staub mehr auf meiner Kleidung?“ Skeptisch betrachtete sie den Erzmagier, der neben dem Tisch stand und schwieg. Sie kratzte sich am Kopf. „Ich möchte gehen.“

„Natürlich begleite ich dich zurück in die Stadt. Doch zuvor möchte ich dich zum Essen einladen. Du wirst hungrig sein.“ Mit einer galanten Armbewegung lud er sie ein, sich zu setzen.

Glandera legte den Kopf schief und musterte ihn lange. Ihr Blick wanderte vom Erzmagier zum Tisch und zurück. Mit knurrendem Magen schritt sie zögernd näher. „Das ist alles für uns?“

„Glaub mir, du unterschätzt unseren Energiebedarf nach so einem Ereignis. Das sind Gnocchi“, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage, während er die Teller füllte. „Die Köche unserer Akademie sind genauso gut wie die in Italien.“

Sie setzte sich auf seine erneute Einladung hin.

Ferron nahm den Krug mit Wasser. „Möchtest du auch etwas trinken?“

Ihr Mund öffnete sich leicht, als er sie erneut bediente.

„Lass es dir schmecken.“

„Danke, hochgelehrter Magister. Guten Appetit.“ Sie stach mit der Gabel zu und probierte zaghaft die unbekannte Speise. Dann schloss sie genießend die Augen.

Es dauerte einige Zeit, bis ihre Schultern endlich hinabsanken und sich ihr Gesichtsausdruck entspannte. Sie war so hungrig, wie Ferron erwartet hatte, und sie liebte Kartoffeln, was ihn ebenfalls in seiner Vermutung bestätigte. Zusammen leerten sie die gesamte Schüssel.

„Danke, hochgelehrter Magister, das war lecker“, zögernd stand Glandera auf, „aber ich sollte nun wirklich zur Arbeit zurückkehren.“ Pflichtbewusst räumte sie das leere Geschirr zusammen.

„Lass nur, die Bediensteten räumen auf.“

Vor ihren Augen senkten sich Tisch und Blöcke in den Boden. Ungläubig schaute Glandera auf die Stelle, an der sie eben gespeist hatten und nur noch das Geschirr stand. „Oh, dann … wo finde ich den Ausgang?“

Der Erzmagus zeigte auf den Rand der Arena. „Er ist versetzt hinter dieser Wand. Doch du brauchst nicht zur Mine zurückkehren. Ich habe sie geschlossen.“

„Für immer?“, fragte Glandera und ihre Stimme schwankte.

Intuitiv las Ferron ihre Gedanken. „Nein, vorübergehend, da sie nach dem Erdbeben nicht mehr sicher ist. Ich möchte keine Menschenleben gefährden. Was besorgt dich?“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Zulkis wird die Zeit nicht zahlen.“

„Das ist gegen die Vorschriften!“, erwiderte Ferron erzürnt.

Mit großen Augen sah sie zu ihm hinauf. „Es wäre nicht das erste Mal.“

„Gibt es noch mehr über ihn zu berichten?“ Gespannt folge er den Bildern in ihrem Kopf. Erinnerungen an ihre Kolleginnen blitzen in ihren Gedanken auf, doch er erfuhr nicht, was passierte, nachdem sie Zulkis bemerkt hatte. Er war sich sicher, dass dieser der Auslöser war. Seit Ferron Glandera kannte, erhielt er ein völlig neues Bild des sonst so übereifrigen Mitarbeiters.

Ohne ihm zu antworten, schüttelte sie den Kopf und schaute zu Boden.

„Gut, ich sorge persönlich dafür, dass alle Minenarbeiter für diese Woche ihren vollen Lohn erhalten.“

„Vielen Dank, hochgelehrter Magister.“

Ein zaghaftes Lächeln umspielte Glanderas Lippen. Der Erdmagier zog sich aus ihren Gedanken zurück und erinnerte sich an Nereidas Vergleich mit dem übervollen Fass. Er hoffte, mit dieser Geste zeitnah ihre Not zu lindern. Galant neigte er sein Haupt und begleitete sie an den äußeren Rand der Arena.

 

Fast unsichtbar lag der Ausgang vor ihnen und Glanderas Schritte wurden leichter. Sie drehte ihren Kopf zum Wasserfall und hielt an. „Wenn Ihr mir eine Frage erlaubt, hochgelehrter Magister. Was ist eigentlich der Zweck für diesen seltsamen Ort?“

Er lächelte sie an. „Dies ist ein Übungsgelände für Elementarmagier.“

Überrascht hob sie ihre Augenbrauen. „Ihr übt hier zaubern?“

„Regelmäßig. Selbstverständlich muss diese Bildungseinrichtung auch für diesen Zweck über ein Areal verfügen. Es liegt abseits und ist von der Außenwelt abgeschirmt. Wir wollen nichts zerstören.“

Glandera

Der Druck in ihrer Brust löste sich, während Glandera neben dem Erzmagier durch den kleinen Wald schlenderte. Es roch nach Harz. Ein schmaler Pfad führte sie an Buchen und Tannen vorbei, bis sich das Gelände lichtete.

Die Sicht auf die Magierakademie war frei. Obwohl sich Glanderas Magen zusammenkrampfte, blieb sie kurz stehen und betrachtete das imposante Gebäude. Sie hatte noch nie den hinteren Teil gesehen, doch so hatte sie sich immer ein Märchenschloss vorgestellt. Weiß strahlten die gekalkten Wände in der Nachmittagssonne und Weinreben rankten bis in den zweiten Stock hinauf. Vor den Fenstern blühten rote Rosen und auf den kleinen Terrassen luden Tische und Stühle zum Verweilen ein. Die Büsche im Garten hatten ein sattes Grün und waren perfekt zurückgeschnitten. Der Geruch der Rosen vermischte sich mit Thymian und Grillen zirpten im saftigen Gras. Hunderte Schmetterlinge flogen durch den Garten. Seit Monaten hatte es nicht geregnet und in der ganzen Landgrafschaft verdorrte die Ernte, bloß hier bemerkte sie von dem Hitzesommer nichts.

Ein kalter Schauer lief Glandera über den Rücken und sie ging kopfschüttelnd weiter. Was mache ich hier?, dachte sie. Es ergibt überhaupt keinen Sinn, dass ich als Einzige wegen eines Erdbebens an diesen Ort gebracht werde. Jeder sieht anhand meiner dreckigen Kleidung, wo ich wirklich hingehöre.

 

An einem gläsernen Pavillon lehnte ein vergessener Schirm. Flink öffnete ihn Ferron. „Du möchtest deine Haut sicher vor der Sonne schützen.“

Ungläubig nahm sie den reich verzierten Griff mit dem Sonnenschutz aus gehäkeltem Spitzenmuster entgegen. Ihre Stimme versagte, denn sie fand, er wäre einer Königin würdig.

Glücklicherweise führte Ferron sie in einem großen Bogen um das Gebäude herum und zeigte ihr dabei die Bienenstöcke und den Hühnerstall. Glandera genoss das Gefühl des kühlen, saftigen Grases unter ihren Füßen. Heimlich hielt sie Ausschau nach Spielzeug, wie einem Ball, dass ein Kind liegen gelassen hatte – doch sie fand nichts. War die Erzählung ihrer Großmutter wahr? Sie traute sich nicht, zu fragen, und die meiste Zeit schwieg der Erzmagier, während er sie durch die Stadt bis zu ihrer Straße begleitete. Dort verabschiedete er sich galant von ihr.

 

Hilde stürmte ihrer Tochter entgegen und drückte sie an sich, kaum dass diese die Haustür hinter sich geschlossen hatte. „Liebes! Endlich! Geht es dir gut? Wo warst du die ganze Zeit?“

„In Sicherheit.“ Glandera kratzte sich am Kopf. „Ich wurde in Sicherheit gebracht.“

„Da bin ich aber froh.“ Ihre Mutter eilte zurück zum Fenster. „Ist er das?“ Unentwegt bewegte sie den Kopf, um einen besseren Blick auf Ferron zu erhaschen, der die Straße Richtung Marktplatz verließ.

„Wen meinst du?“

„Na, den stattlichen Mann, der dich nach Hause gebracht hat. Ist er der Verehrer, den du vor mir geheim hältst?“

Glandera rollte mit den Augen. „So kann man ihn sicher nicht bezeichnen.“ Sie nahm sich vor, besser aufzupassen, sonst würde bald die ganze Stadt über sie reden.

„Was ist er dann? Erst schickt er uns Lebensmittel, dann begleitet er dich nach Hause …“

Schnell eilte Glandera die Treppen hinauf. „Ich weiß es nicht, Mutter.“ Langsam schüttelte sie den Kopf. Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht.

Ferron

Ohne seine Robe mit den Insignien seines Ranges und des Erdelements sah Ferron in seiner Kleidung wie ein wohlhabender Bürger dieser Stadt aus. Lächelnd drehte er sich um. Natürlich hatte er bemerkt, wie ihre Mutter ans Fenster eilte, um ihn zu inspizieren. Er lachte, da er von Hilde als ‚Glanderas Verehrer‘ bezeichnet wurde. Doch mehr erfuhr er nicht.

Diese Familie war weiterhin ein Rätsel für ihn. Arminio hatte ihm berichtet, dass im Kirchenbuch lediglich die Hochzeit von Glanderas Eltern vermerkt war. Sie waren gläubige Christen und er war sich sicher, dass deren Kinder getauft wurden. Warum war das nicht niedergeschrieben worden? Und weshalb trug sie kein Artefakt, wie die anderen Magier, das ihre Herkunft darlegte? Ihr Bruder brauchte dies nicht, da dieser keinerlei magische Talente zeigte.

Er war froh, dass ihrer Familie während des Erdbebens nichts geschehen war. Gedankenverloren packte er an seine rechte Seite, um seine silbernen Handschuhe hervorzuholen, und griff ins Leere. Auch diese steckten noch in seiner Robe. Er schmunzelte, denn er hatte in Glanderas Gesellschaft nicht einen Moment den Wunsch verspürt, sie zu tragen. Sein Weg führte ihn hinter dem Torbogen direkt in den Feuertrakt zu seinem Freund Sverker.

 

Müde von der langen Nachbesprechung mit dem Feuermagier und den vielen ungewohnten Ereignissen kehrte Ferron in sein Arbeitszimmer zurück. Da Sverker den Bericht verfasste, hatte er Zeit, Notizen über Glandera anzufertigen und seine nächsten Schritte zu planen. Die Bediensteten hatten seine Robe zurückgebracht und gesäubert. Er griff in die Tasche, holte seine Handschuhe heraus und zog sie an. Mitten in der Bewegung hielt er inne.

Ein Diener hatte auf seinen Schreibtisch ein silbernes Tablett gestellt. Darauf lag das staubige Kopftuch von Glandera. Das Bild, wie es ihr vom Kopf rutschte und ihre braunen Locken zum Vorschein kamen, blitzte vor seinem inneren Auge auf. Ihre roten Lippen, die ein Lächeln auf ihr Gesicht zauberten. Ein warmes Gefühl durchströmte seinen Körper.

Zögernd näherte er sich und legte die Handschuhe auf den Tisch. Achtsam, als ob es sich um Glandera selbst handeln würde, nahm er das Tuch in seine Hände und betrachtete es. Langsam hob er es an seine Nase und schnupperte daran.

Es überraschte ihn nicht, dass es wie die Mine roch, in der sie arbeitete, doch da war ein weiterer intensiver Geruch: der nach Gewitter. Dieser besondere Moment, wenn sich die Energien in den Wolken aufgestaut hatten, es über dem Kopf blitzte und zeitgleich donnerte und dann die ersten Regentropfen mit einem lauten Platschen auf den aufgeheizten Boden fielen. Der Duft, wenn sie verdampften und die Erde den weiteren Regen begierig aufsog, war einzigartig.

Ferron atmete lange ein. Er elektrisierte ihn. Wie ein Blitz durchzuckte ihn die Sehnsucht, seine Nase tief in Glanderas Haar zu tauchen. Seine Finger krallten sich in das Kopftuch. Er wollte sie täglich sehen, in ihrer Nähe sein. Dafür würde er sämtliche Bemühungen darauf konzentrieren, ihr die Angst vor Magiern zu nehmen.

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