Kapitel 22

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Es war ein runder Burgturm, aus steinernen Ziegeln erbaut und mit einem hölzernen Spitzdach darüber, welches von einigen Pfeilern gestützt wurde. Der Aussichtsturm war höher als die Kirche im Ort, aus dem der Heiler stammte und somit das höchste Gebäude, welches dieser in seinem Leben erblickt hatte. Er verstand nicht, wie Hemnan zu solchen Bauwerken fähig waren. Sicher vor Wind und Wetter, stabil und majestätisch in die Höhe ragend. Es faszinierte ihn.
 
Der Bär sprang. Erst segelte er mit den Armen wedelnd durch die Luft, dann fiel er wie ein nasser Sack. Mit beiden Händen griff er die Leiter. Eine der Sprossen brach in zwei, die darunter hielt. Belasar setzte seine Füße ab. Als nichts passierte, erlaubte es sich Pecus, wieder durchzuatmen.
 
Stets fürchtete er um andere. Einer der Gründe, wieso man ihn nicht an vorderster Front wollte. Wie sollte er sich selbst verteidigen, wenn er dies mit jedem anderen tun wollte? Deshalb hatte er gelernt Verbände anzulegen, Wundsalben herzustellen, Brüche zu schienen und vieles mehr. 
 
Er tat diese Arbeit ungern. Nur bei einer Geburt fühlte er sich wohl. Ein Kind auf die Welt zu bringen, war für ihn eine Art Wiedergutmachung für Soldaten, deren Leben er nicht hatte retten können.
 
Der Große erklomm den Turm, während Pecus in Gedanken schwelgte. Der Heile war froh auf ihn getroffen zu sein. Es war ein ruppiger und unverblümter Mann, dafür klug, ehrlich und mutig. So schätze er Belasar zumindest ein.
Er wusste nicht, was er von dem anderen halten sollte. Seit der Verletzte erwacht war, hatte er kaum ein Wort gesprochen. Der Mann wirkte für den Heiler wie ein Kriegsveteran. Körperlich wie geistig gestraft vom Leben.
 
Der Schnee hatte aufgehört zu fallen, als sich Pecus um Belasar sorgte. Dieser war nicht zurückgekehrt, noch hatte er Meldung gegeben. Pecus sah zu Theovin, welcher mit leerem Blick geradeaus starrte. Der Heiler konnte nicht ausmachen, was dieser betrachtete. Vermutlich nichts. Es war, als würde der Vernarbte mit offenen Augen schlafen. Er lebte in seiner eigenen Welt.
Pecus rutschte über die Ziegel zu ihm hinüber.
 
„Sollten wir nachsehen gehen?“
 
Theovin blinzelte. Er erschrak sich, als er den Fremden neben sich ausmachte. Dies war der Mann, welcher ihm womöglich das Leben gerettet hatte, dennoch vertraute der Vernarbte ihm nicht. Er konnte es nicht erklären, doch ließ er sich nicht auf andere Männer ein. Erst recht nicht auf Frauen.
 
Der Heiler formulierte seine Frage erneut, „Belasar ist auf den Turm gestiegen, aber er kommt nicht zurück“.
Theovin zuckte mit den Achseln. Der Bär war stark und er besaß ein lautes Organ. Wäre ihm etwas zugestoßen, hätten sie es mitbekommen.
 
Als dem Heiler auffiel, dass sich der Verletzte nicht dafür zu interessieren schien, nahm er selbst Anlauf. Gerade als er beschleunigte, musste er an die Höhe des Gebäudes denken. Für einen Schritt bremste er ab. Dann schlitterte er. Verzweifelt versuchte Pecus, einen Ziegel zu greifen, aber die Handschuhe rutschten ab. Er drohte zu fallen.
 
Sein Atem setzte aus. Wenn er sich das Bein brechen würde, war sein Leben vorbei. Wie sollte er so ins Tal gelangen können?
Die Stiefel rutschen über das Metall, doch die Hände griffen es im letzten Augenblick. Durch den Ruck hielt er sich am hintersten Teil der Regenrinne. Diese bog sich durch. Ein Nagel befreite sich aus der Wand. Pecus blickte nach unten und ließ los.
Ein Ruck ging durch seine Beine und es schmerzte in der Hüfte. Er tat einen Schritt. Es war nichts gebrochen oder verstaucht. Pecus sah hinauf, doch konnte er Theovin nicht ausmachen.
 
Als er bemerkte, dass er sich in einer der düsteren Gassen befand, packte ihn die Angst. Panisch drehte er sich um und rannte zur Leiter, so schnell wie es ihm durch den Schnee gelang.
Hektischer als er sollte, kletterte er hinauf. Er übersah die zerbrochene Sprosse und griff ins Leere. Nach Luft ringend, packte er die darunter und zog sich ungelenk nach oben. Er verbot es sich, hinab zu blicken.
 
Dafür achtete er auf das Holz. War es glatt, brüchig, lose oder morsch? Auf die meisten Sprossen trafen diese Eigenschaften zu. Mit seinen Ängsten ringend, kletterte der Heiler immer weiter nach oben, während er versuchte, die Holzbalken zu überspringen, welche ihm bedrohlich vorkamen. Vom Dach aus, hatte die Strecke nicht so weit ausgesehen, wie sie sich in jenem Moment anfühlte.
Pecus erspähte das Dach über ihm. Mit verbliebener Kraft griff er den letzten Balken und lugte auf die Turmspitze.
Er erschauderte. Der Schock ließ ihn loslassen. Pecus sah den Himmel und dabei den Turm immer höher werden. Verzweifelt griff er nach den Sprossen, streifte diese aber nur. Unter den Füßen zerbrach eine von ihnen und schnitt dann seinen Händen ins Fleisch. Verkrampft hielt er sich an den Seiten der Leiter. Durch die Reibung schälte sich seine Haut. Dennoch biss er die Zähne zusammen. Er wollte nicht schreien.
 
Holz krachte, dann löste er sich von der Leiter, fiel ins Ungewisse. Alle Luft wurde aus seinem Körper gepresst, als sein Rücken auf den Boden traf. Der Schnee wurde zusammengepresst und dämpfte den Aufprall.
Das Herz pochte in Pecus Brust, als versuche es, auszubrechen. Die aufziehenden Wolken verschwommen über ihn. Dann wurde er von der Dunkelheit geholt.
 
Ein ziehender Schmerz im Nacken, den Schultern und dem gesamten Rücken, ließen ihn zu sich kommen. Er konnte nicht lang das Bewusstsein verloren haben, da er am Turm vorbei erkannte, wie der Mond die leerstehenden Gebäude beschien.
Seine letzten Erinnerungen, stiegen in ihm auf. Er schreckte zusammen und spürte dadurch, dass er sich bewegen konnte. Auf dem Turm war ein Mann mit einer Armbrust gelegen. Belasar hatte über ihm gestanden. Etwas mit ihm hatte nicht gestimmt. Er war wie besessen gewesen.
 
Pecus schüttelte den Kopf. Er wollte nicht daran denken. Die Furcht weckte seinen Geist und Körper. Blitzschnell erhob er sich und suchte nach einem Weg, zurück auf das Gebäude. Da der Eingang verschüttet war, versuchte er vom Fenstersims der ersten, den der zweiten Etage zu erreichen. Er scheiterte. Keine Spur von Theovin noch dazu.
 
Von der Furcht getrieben, presste er sich an die Turmwand, selbst wenn sein Kreuz ihn plagte. Zu beiden Seiten spähend, erkannte er nichts als leere Straßen und verfallene Gemäuer. Pecus versuchte, nach dem Verletzten zu rufen, aber sein Atem ließ ihn im Stich. Die Lungen brannten, als hätte er glühende Kohlen verschluckt. Manchmal passierte ihm das, wenn er in Panik war.
 
Bilder von schattenhaften Wesen schossen dem Heiler in den Kopf. Er versuchte, sich zu beruhigen. Er wusste nicht, wie der Kampf ausgegangen war, dennoch war ihm der offene Platz lieber als die engen Gassen. Daher schlich er vorwärts, am Turm vorbei, bis er den Mond wieder zu sehen bekam.
 
Was er vor sich fand, war weit schlimmer als das, was er auf der Turmspitze gesehen hatte. Das Blut gefror in seinen Adern, während er die Augen über die Berge aus Leichen wandern ließ.
 
Es mussten Dutzende, wenn nicht über 100 Soldaten sein. Speere, Schwerter und Schilder, ragten aus Haufen toter Körper hervor. Der Heiler schätze mittlerweile auf 150.

 

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