Kapitel 6

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Die Kleriker in ihren, mittlerweile vom Dreck und der Nässe dunkel gefärbten, ursprünglich gelb-orangenen Roben, wanderten bedächtig umher, auf der Ruine des alten Festungshofes. Sie segneten den Boden mit den heiligen Tränen, einer Mischung aus verschiedenen wohlriechenden Pflanzenölen und Wasser. Die Jünger des Allsehenden, schwenkten ihre bronzenen Ketten mit den daran hängenden Gefäßen, wodurch ein kaum hörbares Rasseln ertönte. Die Flüssigkeit benässte den von Schnee und Schutt bedeckten Grund.


In unmittelbarer Entfernung standen die Soldaten und beobachteten das Geschehen. Zumindest die Gläubigen unter ihnen. Der Rest saß oder lag im Schutze der Mauer, auf brüchigen Steinfliesen. Sie tranken und aßen. Unterhalten wurde sich kaum. Wie ein Fiebertraum plagte die Männer der Aufstieg, sowohl in ihren Köpfen, als auch in ihren Gliedern. 


Belasar starrte saufend auf Enrik Grünzweig, den Anführer ihrer Truppen. Dieser unterhielt sich mit einem Mann in Plattenrüstung. Sie tuschelten geheimnisvoll, doch Belasar musste wohl hoffen, etwas aufzuschnappen. Sonst wäre er selbst nicht so ruhig, bildete sich Theovin ein. 


„Kein Adler?“, fragte der Adlige den gesalbten Ritter.
„Nein, Eure Exzellenz. Von den Burgmauern ist ebenfalls nichts zu sehen“, antwortete der Soldat förmlich, doch mit einem leichten Zittern in der Stimme.
„Melde dich, wenn ihr die Vorhut erspäht. Umgehend!“
„Wie gewünscht, Eure Exzellenz“, verabschiedete sich der Ritter vom Kommandanten und trat weg. 


Der Großteil der Gesalbten, hatten auf der Mauer Stellung bezogen. Zwar war die Sicht durch Nebel erschwert, doch hier und dort konnte man durch die weiße Wand den Berg erkennen. Höher als jeder Burgwall, welchen Enrik je gesehen hatte, streckte sich das Mauerwerk gen Himmel. Steinerne Treppen führten hinauf. 


Nichts, außer dem Tor, und einigen wenigen Dächern und Türen, war aus Holz erbaut worden. Die Festung war ein Gebilde für die Ewigkeit. Zwar in mancher Hinsicht verfallen, dennoch Jahrhunderte nach ihrer letzten Verwendung, immer noch mit Leichtigkeit bemannbar. 


Der Brunnen war bis oben hin mit Schnee ausgefüllt, die Dächer bedeckt davon, mit Eiszacken, so lang wie Speerspitzen daran. Enrik ließ diese abschlagen lassen. Fackeln wurden in Pech getaucht, entzündet und in Halterungen gesteckt, welche in die Wände eingelassene waren. Es dämmerte. Der Adlige sah zu dem im Osten, sich aus dem Wolkenmeer erhebenden Mond. Er war schneeweiß, mit einem bläulichen Schimmern daran.


„Der Frostmond“, sagte Theovin leise zu sich selbst, während er sich in eine Decke hüllte. 
„Was sagst du?“, lallte Belasar mit roter Nase. 
„Die Leute hier nennen ihn so. In so manchen Winternächten, wenn er größer am Himmel ist, als die Sonne am Tag und wenn er leuchtet, in diesem weißen Glanz“, wisperte der gebrochene Mann.
„Du meinst Vollmond“, gluckste der Bär.
„Es ist etwas“, Theovin machte eine ominöse Pause, „anders.“
Belasar bot ihm einen Schluck Met an und der Vernarbte nahm dankend an. Er sah zu den Männern, welche versuchten ein Feuer zu entzündet. Es gelang ihnen nicht, bis einer etwas Pech darüber goss. Für gewöhnlich solle mit diesem gespart werden, aber den gebrannten Wein wollten die Soldaten lieber trinken, statt ihn zu verbrennen.
„Man sagt, er wäre größer und heller als an jedem anderen Tag. Er verspricht Kälte und schlaflose Nächte... und Schlimmeres.“
Belasar lachte, mit seiner tiefen, angetrunkenen Stimme. 
„Glaubste etwa an diese Ammenmärchen?“
Theovin schüttelte den Kopf. 
„Das weiß man hier. Ist eine Bauernweisheit. Der Frostmond bringt Schnee, Wind und Hagel.“ 
„Und Schlimmeres“, sagte und fragte Belasar zugleich.
Der Vernarbte nahm einen weiteren Schluck. 
„Na los. Erzähl mir eine Geschichte. Ein Schauermärchen.“


Belasar wirkte äußerst interessiert und Theovin hatte nichts Besseres zu tun. Es wurde immer später und er immer müder, doch schlafen konnte er nicht. Dazu war es zu kalt und hell. Lediglich der Wind, welcher beruhigend gegen die Festungsmauern schlug, wie die Wellen, welche an einer Klippe brandeten, machten ihn schläfrig. 


„Na gut. Man sagt, dass an Tagen wie diesen, wenn es am kältesten ist, mitten in der Nacht und ein wenig Schnee sich auf die Landschaft legt, der Wind für kurze Zeit stillsteht, wie vor einem aufkommenden Sturm.“
Belasar hörte dem Erzähler gespannt zu, während dieser eine Pause machte, um zu überlegen, wie er weiter ausführen würde.
„Dann soll es ganz leise werden, während sich eine Wolke vor den Mond schiebt.“
Theovin gestikulierte mit seinen behandschuhten Händen, welche zitterten wie ein Fisch im Netz.
„Stapfen im Schnee soll zu hören sein. Oder nein, keine Schritte. Nicht wie bei einem Hemnan, ein Fuß vor den anderen. Wie ein Schleifen. Als ob jemand einen Sack über den Boden zieht. Wenn man es hört, muss man seine Augen geschlossen halten, denn dann geht die Frau im weißen Kleid umher. Es soll so weiß sein wie der Mond.. und hell. Wie die Haut der Frau. Sie bringt den Winter, den Tod, zu allem, was auf der Erde kreucht und fleucht, damit es im Frühling neu erwachen kann. Und wenn sie dich sieht, in deine wachen Augen guckt, dann soll es das letzte sein, was du siehst.“
Der Bär lachte laut. 


„Und wer will sie dann gesehen haben, wenn er dann stirbt?“, fragte er höhnisch.
„Ich bin noch nicht fertig“, unterbrach ihn Theovin mit halb ernster, halb heiterer Mine, in der sich mittlerweile schon deutlich der Alkohol abzeichnete. 


„Du gehst nicht gleich zugrunde. Sie tötet nicht, wie ein Meuchelmörder, sondern wie die Kälte. Langsam. Stück für Stück. Erst siehst du nicht, dann riechst du nicht, bald hörst und schmeckst und fühlst du nichts mehr. Die Augen werden weiß, die Kehle trocken. Der Kuss der Frosthexe, sagt man, lässt dich nach und nach zu Eis werden, bis du überall erstarrst.“
„Solange mein Schwanz als Letztes erstarrt, will ich die milchfarbige Frau reiten“, steuerte Belasar bei, was Theovin so sehr aus dem Konzept brachte, dass er mit dem Bären in ein brüllendes Gelächter verfiel. 


Die Nacht versprach deutlich kälter zu werden, also rückten die Männer näher ans Feuer. Theovin massierte mit dem Rücken zu den Flammen seine Zehenspitzen. Sie waren wie gefroren.
Er zog sich die Decke bis zur Nase und schloss die Augen. An seinen Wimpern klebte Schnee. Er atmete schwerfällig in die Decke. Der Met, Wind und die Dunkelheit gewannen bald gegen all die Gedanken, welche ihn plagten und rissen ihn hinab in das Reich der Träume. 

„Immer noch keine Neuigkeiten?“, flüsterte der Kommandant zu einem der Wachposten. 
Mittlerweile waren die Männer am Schlafen. Einige Ritter und einfache Soldaten bemannten die Mauer, oder legten Feuerholz nach. Zu ihrem Glück waren im Lager der Festung noch Vorräte gewesen. Selbst wenn jenes Holz alt und störrisch war, war es dennoch nicht feucht und brannte, wenn man es in die Glut legte. 


Zwar waren manche Soldaten den weniger steilen Weg für die Vorräte gegangen, allerdings würde es nicht für all zu viele Tage reichen. Das Wetter und die Stimmung der Männer ließ eine frühe Abreise nicht zu und wann und ob der Feind sich zeigen würde, war unberechenbar. Vorräte mussten rationiert werden. 


Für Enrik war es ein Wunder, dass sie auf dem Hochweg nur eines der Pferde hatten zurücklassen müssen. Dieses hatte sich schlichtweg geweigert, den Weg weiter zu gehen und um sich getreten. Die anderen hatten zwar geschnaubt und an sich zerren lassen, waren aber schlussendlich gefolgt. Für den Transport von Lasten eigneten sie sich und womöglich würden sie irgendwann als Verpflegung dienen müssen. Dies befürchtete der Prinz zwar, doch Pferdefleisch war im lieber, als eine Truppe hungriger Bauern, welche man bewaffnet und auf einen einsamen Berg geschickt hatte.

„Keine Nachricht und ebenso kein Sichtkontakt, Eure Exzellenz.“ 
Der Kommandant trank einen Schluck Wasser, welchen er sich in einem Kessel erhitzt hatte. Er musste bei klarem Verstand bleiben. Bald schon würde die Verstärkung eintreffen. In Kürze. 
„Abtreten.“


Der Soldat verneigte sich und ging zurück auf seinen Posten, während sein Kommandant zum Himmel hinaufblickte. Schnee legte sich auf Pelz wie Metall und der Mond spiegelte sich in den dunklen Augen des Prinzen wieder. Er war so groß, als würde er bald schon auf die Welt herabfallen. 

 

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